Armut breitet sich in Richtung Mittelschicht aus



Sozialstaat und Sozialstaatlichkeit, das sozialstaatliche Leistungssystem und der Sozialstaatsgedanke an sich, haben innerhalb der letzten Jahrzehnte erhebliche Veränderungen erfahren.

Etwa seit der Jahrtausendwende vollzog sich eine charakterliche Neuausrichtung des deutschen Sozialstaats, verbunden mit einem qualitativen Wandel wohlfahrtsstaatlicher Leistungen.

Die Grundsicherung im Alter sei so niedrig bemessen, dass viele Senioren auf zusätzliche Hilfe wie Tafeln angewiesen seien, so Armutsforscher Christoph Butterwegge im Dlf. Auch die von der Großen Koalition beschlossene Grundrente könne die steigende Altersarmut nicht verhindern.




Christoph Butterwegge im Gespräch mit Petra Ensminger

Petra Ensminger: Die bis gestern noch kommissarische SPD-Chefin und Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer, hat erklärt, Menschen sollen nicht zu Bittstellern werden. Aber sie sind es längst, viele jedenfalls, das hören wir vom Bundesverband der Tafeln. In Deutschland holen sich demnach immer mehr Menschen Lebensmittel der Tafel. Die Zahl sei im vergangenen Jahr um zehn Prozent gestiegen. Besonders groß ist dabei die Nachfrage älterer Menschen. Der Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge ist jetzt am Telefon. Guten Tag, Herr Butterwegge!

Christoph Butterwegge: Guten Tag, Frau Ensminger!

Ensminger: 1,65 Millionen Menschen haben sich im vergangenen Jahr bei den Tafeln Lebensmittel geholt, im zurückliegenden Jahr. Was hinterlässt das bei Ihnen?

Butterwegge: Das zeigt, dass wir in einem tief zerrissenen Land leben. Auf der einen Seite konzentriert sich der Reichtum in wenigen Händen, auf der anderen Seite werden die Armen zahlreicher. Die Armut breitet sich so in Richtung Mittelschicht aus, und diejenigen, die zur Tafel gehen, die kommen mit den Leistungen des Sozialstaates ganz offensichtlich nicht aus. Das sind häufig Hartz-IV-Bezieher, das sind aber auch alte Menschen, die die Grundsicherung im Alter bekommen, und zwar deshalb, weil ihre Rente nicht ausreicht, und auch die Grundsicherung ist natürlich sehr niedrig bemessen und ist nicht geeignet, dafür zu sorgen, dass diese Menschen nicht zusätzliche Hilfe in Anspruch nehmen müssen.

„In der Rentenpolitik ist im Grunde ein Abbau erfolgt“

Ensminger: Aber ist das eine Erklärung für diese deutliche Zunahme bei den älteren Menschen? Vor allem die fragen nach. Um 20 Prozent auf 430.000 ist die Zahl der Kunden bei der Tafel gestiegen. Da gibt es auch eine Erklärung des Bundesverbandsvorsitzenden Jochen Brühl, der sagte im Interview mit der „Neuen Osnabrücker Zeitung“, es gäbe jetzt auch spezielle Angebote für Ältere, das viele Tafeln gestartet hätten, um Hemmschwellen auch abzubauen, etwa Seniorennachmittage. Wie erklären Sie sich diese starke Zunahme um 20 Prozent?

Butterwegge: Das hat auf der einen Seite damit zu tun, das sich so langsam bei den Renten natürlich auswirkt, insbesondere bei den Neurentnerinnen und Neurentnern, dass wir nach der Vereinigung eine sehr hohe Massenarbeitslosigkeit, ganz besonders in Ostdeutschland hatten, aber auch ein Niedriglohnsektor, der sich immer mehr ausgeweitet hat aufgrund der Agendareform der Hartz-Gesetze.

Gleichzeitig ist in der Rentenpolitik im Grunde ein Abbau erfolgt. Das Rentenniveau ist abgesenkt worden von zur Jahrtausendwende 53 Prozent vor Steuern auf jetzt noch 48 Prozent, und das macht sich natürlich in niedrigeren Renten bemerkbar, und das heißt, die alten Menschen, das stellen wir auch fest jenseits der Tafeln, die alten Menschen sind diejenige Gruppe in der Gesellschaft, bei denen die Armut am meisten steigt.




Ensminger: Wobei die GroKo will das angehen mit der Grundrente. Sehen Sie darin eine Lösung?

Butterwegge: So wie die Grundente jetzt als Kompromiss gestaltet ist, ganz sicherlich nicht. Da sollen also etwa 1,5 Millionen Menschen, deren Rente nicht ausreicht, sondern mit der sie eher in der staatlichen Grundsicherung landen würden, besser gestellt werden im Durchschnitt etwa mit 80 Euro.

Der Soziologe und Armutsforscher Christoph Butterwegge (picture alliance/ dpa/ Frank May)(picture alliance/ dpa/ Frank May)
Butterwegge zur Grundrente – „Altersarmut lässt sich so nicht bekämpfen“
Der Kölner Soziologe und Armutsforscher Christoph Butterwegge hat den Kompromiss zur Grundrente als reine Symbolpolitik und „Trippelschrittchen“ kritisiert. Damit könnten Menschen, die jahrzehntelang gearbeitet hätten, im Alter kein Leben in Würde führen.

Ensminger: Man kann ja sagen, wenigstens besser als nichts, oder?

Butterwegge: Das ist eher ein staatliches Almosen, weil 1,5 Milliarden Euro will die Große Koalition dafür bereitstellen. Das bedeutet dann, statt 808 Euro – das ist jetzt der Durchschnitt der staatlichen Grundsicherung im Alter im Bundesdurchschnitt – kommt man dann auf etwa 890 Euro, aber die Armutsrisikoschwelle der Europäischen Union liegt bei 999 Euro im Monat für einen Alleinstehenden, wovon man dann allerdings auch noch die Miete bezahlen muss.

Ensminger: Auch der Bundesvorsitzende der Tafeln glaubt nicht an die Grundrente. Er sagt, eine effektive Bekämpfung der Altersarmut beginne im Erwerbsleben oder noch früher. Wir haben es gehört, die SPD fordert einen Mindestlohn von zwölf Euro. Ist das wenigstens ein richtiger Ansatz?

Butterwegge: Das ist ein richtiger Schritt. Die Bundesregierung hat allerdings auf eine Anfrage im Parlament, wie hoch denn der Mindestlohn sein müsse, damit man nach 45 Jahren Vollzeiterwerbstätigkeit mit diesem Mindestlohn nicht in die staatliche Grundsicherung im Alter fällt, also das heißt, die frühere Sozialhilfe beziehungsweise -fürsorge, hat die Bundesregierung geantwortet, 12,63 Euro müsste der Mindestlohn betragen.

Daran sieht man, dass die Altersarmut zwar sicherlich abnehmen würde perspektivisch durch einen Mindestlohn in Höhe von zwölf Euro brutto pro Stunde, dass das aber auch noch nicht ausreichen würde.

Ich denke, wir müssen in Richtung einer solidarischen Bürgerversicherung gehen, alle einbeziehen, auch Selbstständige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete und Minister, und dann muss auf der finanziellen Grundlage dieser höheren Beiträge, die dann einfließen in die Rentenversicherung, dafür gesorgt werden, dass das Rentenniveau wieder steigt, weil das reicht nicht aus, um die Menschen vor der Altersarmut zu bewahren.

Die Hand einer älteren Frau schiebt ein paar Münzen auf einer Tischplatte herum (Imago/ Westend61)(Imago/ Westend61)
Soziologe zu Altersarmut – Mieten belasten ältere Menschen immer mehr
Ältere Menschen müssten einen immer größeren Teil ihres Einkommens für Mieten ausgeben, so Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung im Dlf. Das liege daran, dass sich ihre Einkommen nicht verbesserten, die Mieten aber stiegen. Häufig seien sie dann gezwungen, umzuziehen.




„Wir müssen in Richtung einer solidarischen Bürgerversicherung gehen“

Ensminger: Davon sind wir noch relativ weit weg. Noch mal zu dem, was die Tafel heute bekanntgegeben hat. 500.000 Kinder und Jugendliche sind demnach auch Kunden der Tafel. Auch bei der Kinderarmut will ja die SPD zumindest jetzt ansetzen mit einer Kindergrundsicherung von bis zu 478 Euro im Monat, statt vieler verschiedenen Familienleistungen, will die Partei das alles bündeln. Da geht es tatsächlich darum, dass Kindern am Ende mehr Geld zur Verfügung steht oder für Kinder zur Verfügung steht. Ein richtiger Schritt?

Butterwegge: Das auf jeden Fall, wenn man gleichzeitig staffelt, was die SPD vorhat, nach dem Alter der Kinder auch berücksichtigt, dass es in manchen Teilen der Bundesrepublik, meinetwegen in Stuttgart oder München, aber auch in vielen anderen Großstädten sehr hohe Mieten gibt. Wenn man das berücksichtigt in dieser Kindergrundsicherung und nicht pauschal an alle denselben Betrag zahlt, wie das auch durchaus in Vorschlägen einer Kindergrundsicherung enthalten war, dann ist das ein richtiges Konzept, um Kinderarmut zu bekämpfen.

Auf der anderen Seite holt man zwar die Kinder aus Hartz IV heraus, aber die Kinder sind natürlich arm, weil die Eltern, meistens die Mütter, arm sind, und das heißt, man muss eigentlich auch mehr tun als die SPD bisher vorschlägt in Bezug auf die Regelbedarfe in Hartz IV. Die sind einfach zu niedrig, und es nützt natürlich wenig, die Kinder besserzustellen, wenn gleichzeitig die alleinerziehenden Mütter, die sehr häufig betroffen sind, nicht mehr haben als bisher.

Quelle: deutschlandfunk.de



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